10 Jahre nach der Katastrophe – Die Frage nach der Schuld für den Concorde-Absturz

10 Jahre nach der Katastrophe – Die Frage nach der Schuld für den Concorde-Absturz

Knapp zehn Jahre nach dem Absturz des Überschallflugzeugs Concorde befasst sich die französische Justiz mit der Frage nach der strafrechtlichen Verantwortung für die Katastrophe im Juli 2000, bei der 113 Menschen ihr Leben verloren haben. Anfang Februar begann der Strafprozess gegen die amerikanische Fluggesellschaft Continental sowie zwei seiner Angestellten, gegen den langjährigen Chef des Concorde-Programms, einen früheren Chefingenieur des Concorde-Herstellers Aérospatiale sowie gegen einen Mitarbeiter der französischen Luftfahrtbehörde DGAC. Anlässlich des Prozessauftakts Anfang Februar unterhielt sich die NJW mit Rechtsanwalt Professor Ronald Schmid, der schwerpunktmäßig auf dem Gebiet des Luftverkehrsrechts und des Reiserechts tätig ist, und selbst zahlreiche Hinterbliebene der Opfer dieses Unfalls vertreten hat, über dieses spektakuläre Verfahren.

NJW: Für die deutschen Opfer und deren Angehörige war der Fall zivilrechtlich bereits im Sommer 2001 abgeschlossen, da Sie und andere Anwälte mit Air France für deutsche Verhältnisse sicherlich überdurchschnittliche Entschädigungszahlungen ausgehandelt hatten. Was verspricht man sich nun von dem Strafverfahren zehn Jahre nach der Katastrophe?

Schmid: Die strafrechtliche Aufarbeitung des Concorde-Absturzes macht auf jeden Fall auch noch nach zehn Jahren für die Hinterbliebenen der Opfer Sinn. Zum einen darf man nicht übersehen, dass die seinerzeit ausgehandelten Entschädigungszahlungen keinen Schadensersatz im klassischen Sinne darstellten, sondern lediglich eine Art Schmerzensgeld waren, das man zur damaligen Zeit von einem deutschen Gericht nicht, jedenfalls aber nicht in der Höhe hätte zugesprochen bekommen. Darüber hinaus – und das bestätigen auch Psychologen – hilft es Hinterbliebenen einer derartigen Katastrophe bei ihrer Trauerarbeit ganz erheblich, wenn geklärt wird, ob es Verantwortliche für den Tod eines Angehörigen gibt und sie auch verantwortlich gemacht werden. Das ist auch Jahre nach einer solchen Katastrophe wie dem Absturz der Concorde wichtig. Genauso wichtig, wenn auch für die Hinterbliebenen ungleich bitterer, ist es, wenn die Untersuchung ergibt, dass für den Unglücksfall niemand zur Verantwortung gezogen werden kann, weil er auf Grund einer Verquickung fataler Umstände schlicht unvermeidbar war. Von daher erachte ich die strafrechtliche Aufarbeitung des Concorde-Absturzes knapp zehn Jahre nach der Katastrophe schon allein mit Blick auf die Hinterbliebenen durchaus sinnvoll und hilfreich.

NJW: Lässt sich die Frage nach der Schuld im juristischen Sinne nach so langer Zeit überhaupt noch eindeutig beantworten?

Schmid: Ich denke schon. In dem Zusammenhang muss man allerdings wissen, dass es nach meiner Erinnerung bereits vor dem Absturz im Sommer 2000 bei Concorde-Maschinen der Air-France in der Vergangenheit mindestens (!) zehn vergleichbare Fälle gegeben hatte, bei denen während der Startphase Reifen des der Concorde beschädigt wurden. Glücklicherweise führte keiner dieser „Reifenplatzer“ zu einer ähnlichen Katastrophe wie im Sommer 2000. Diese Vorfälle können bei Air France und der Luftfahrtbehörde nicht unbekannt geblieben sein; trotzdem ist man untätig geblieben – aus welchen Gründen auch immer. Deshalb müsste  es in dem nunmehr eröffneten Strafverfahren auch und vor allem um die Frage gehen, WER bei Air France und der Luftfahrtbehörde konkret WAS wusste und WESHALB nichts unternommen hat. Und diese Frage lässt sich meines Erachtens ohne Weiteres auch knapp zehn Jahre nach dem Absturz klären.

NJW: Der amerikanischen Fluggesellschaft Continental wird vorgeworfen, ein Metallteil, das auf der Startbahn der Concorde gelegen habe und das ein vorher startende Continental-Flugzeug verloren haben soll, habe zum Absturz geführt. Kann man insoweit tatsächlich von einer zivil- und/oder strafrechtlichen Verantwortung sprechen oder handelt sich hier nicht eher um eine Verquickung fataler Umstände, die dann zum Absturz der Concorde geführt haben?

Schmid: Die Frage, ob ein Metallteil eines Flugzeugs der Continental Airlines, über das die Unglücks-Concorde zufällig beim Start gerollt ist, oder eine Unebenheit in der Startbahn – auch dies wird als mögliche Absturzursache in Betracht gezogen – zum Absturz der Maschine geführt hat, ist für mich von sekundärer Bedeutung. Allein entscheidend ist doch die Frage, wieso ein (warum auch immer) geplatzter Reifen zum Absturz eines Flugzeugs führen konnte. Hätte ein Jumbo-Jet das Metallteil beim Start überrollt und wäre dabei ein Reifen beschädigt worden, dann wäre es mit Sicherheit nicht zum Absturz gekommen, und zwar schon allein deshalb, weil die Tragflächen eines Jumbojets ganz anders geformt sind als bei der Concorde. Auf Grund der deltaförmigen Tragfläche der Concorde war es unvermeidbar, dass das Reifenteil gegen die Tragflächen, in denen sich die Kerosintanks befanden, geschleudert wurde. Deshalb stellt sich auch die Frage, warum Air-France nicht widerstandsfähigere Reifen aufgezogen hat, zumal auf Grund diverser „Reifenplatzer“ in der Vergangenheit bei Concorde-Maschinen bekannt war, dass es Probleme mit den Reifen bei diesem Flugzeug gab. Zu fragen ist auch, warum man die Tragflächen erst nach der Katastrophe und nicht schon zuvor verstärkt hat, um ein Durchschlagen von Fremdkörpern zu vermeiden. Insgesamt stellt sich die Frage, ob die Concorde – immerhin ein in den 60-er-Jahren entwickeltes Flugzeug, das schon bei Indienststellung 1976 und erst recht zum Zeitpunkt des Absturzes technisch veraltet war, überhaupt noch verkehrstüchtig war. Angesichts all dieser Aspekte ist die Frage, ob das Metallteil einer Continental-Maschine den Absturz verursacht hat, meines Erachtens zweitrangig. Ich fürchte, dass die Untersuchung des Unfalls zu sehr nur in eine bestimmte Richtung läuft und die Verantwortlichkeit der Air France und ihrer Mitarbeiter nicht hinreichend oder gar nicht beleuchtet wird. Das wäre sehr unbefriedigend!

NJW: Ungewöhnlich ist doch sicherlich, dass kein einziger hochrangiger Air-France-Mitarbeiter auf der Anklagebank sitzt, obwohl Air France sich im Sommer 2001 sehr schnell bereit erklärt hatte, die Opfer bzw. deren Angehörige zu entschädigen und auch tatsächlich überdurchschnittlich hohe Entschädigungssumme gezahlt hat?

Schmid: Es ist in der Tat erstaunlich, dass man keinen einzigen Mitarbeiter der Air France und erst recht keinem aus der Führungsetage von Air France auf der Anklagebank findet. Über die Gründe, warum das nicht geschehen ist, kann man nur spekulieren. Meines Erachtens hätte man hier auf jeden Fall den damaligen im Vorstand für den Flugbetrieb Verantwortlichen, den Flugbetriebsleiter sowie den technischen Betriebsleiter von Air-France ebenfalls anklagen müssen. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass sie nichts von den Vorfällen vor dem Unfall gewusst haben. Wenn aber dennoch nicht auch untersucht wird, ob auch Mitarbeiter der Air France verantwortlich sind, wirft das kein gutes Licht auf das Verfahren und die Objektivität der Untersuchung.

NJW: Wo sehen Sie Ansatzpunkte für eine strafrechtliche Verantwortung von Air France?

Schmid: Ansatzpunkte für eine strafrechtliche Verantwortung ranghoher Air-France-Mitarbeiter sehe ich auf Grund der bereits erwähnten Reifenprobleme bei der Concorde, die bei Air-France bereits vor dem Absturz bekannt waren. Ich hatte ja bereits eingangs erwähnt, dass es vor der Katastrophe mindestens (!) zehn ähnliche Fälle von so genannten „Reifenplatzern“ gegeben hatte, bei denen es glücklicherweise nicht zu einem Absturz gekommen war, weil es den Piloten trotz des Schadens noch gelungen war, umzukehren und das Flugzeug sicher zu landen. Trotzdem ermittelt bei derartigen Zwischenfällen immer auch die Luftfahrtbehörde; jede Fluggesellschaft ist verpflichtet, derartige Zwischenfälle zu melden. Von daher kann man davon ausgehen, dass die Reifenprobleme der Concorde bei Air France bekannt waren. Trotzdem ist offensichtlich nichts unternommen worden. In dem Zusammenhang muss man natürlich auch berücksichtigen, dass die Concorde ein Prestigeobjekt war, an dessen Mythos man nicht rühren wollte oder durfte. Ob man deshalb dieses Problem im Unternehmen totgeschwiegen hat, wird hoffentlich geklärt. Der Leiter der Flugunfalluntersuchung soll Presseberichten zufolge schon eingeräumt haben, dass auch auf ihn Druck ausgeübt worden ist – von wem auch immer. Sollten diese technischen Probleme in der Chefetage von Air France unbekannt gewesen sein, was meines Erachtens schlechterdings unmöglich ist, dann läge insoweit ein ganz gravierender Organisationsmangel vor, der ebenfalls Ansatzpunkte für eine strafrechtliche Verantwortung damals Leitender Mitarbeiter bietet.

NJW: Könnten insoweit die seinerzeit im Sommer 2001 ausgehandelten Entschädigungszahlungen eine Präjudizwirkung haben?

Schmid: Der Concorde-Absturz war auf jeden Fall auch juristisch ein Sonderfall, das sollte man nicht übersehen. Und deshalb eignet sich dieser Fall auch nicht dazu, ihn als Präzedenzfall für andere Flugzeugkatastrophen, bei denen Deutsche zu Tode kommen, heranzuziehen. Es ist sicherlich richtig, dass man sich seinerzeit sehr schnell mit Air France auf für deutsche Verhältnisse überdurchschnittlich hohe Entschädigungssummen einigen konnte. Zu dieser schnellen Einigung hat sicherlich auch der Umstand beigetragen, dass Air France möglichst schnell aus den Schlagzeilen herauswollte – möglicherweise auch, um das Prestigeobjekt Concorde zu retten. Die Einigung mit Air France kam auch deshalb relativ schnell zu Stande, weil Air France auf Grund des Zielorts New York befürchten musste, von den Hinterbliebenen in den USA auf noch höhere Schmerzensgeldzahlungen verklagt zu werden. Das wollte man wohl auf jeden Fall verhindern und zog es vor, sich mit den Anwälten der Hinterbliebenen möglichst schnell in Europa zu vergleichen. Ich glaube, dass  sich die Vergleichsverhandlungen seinerzeit sicherlich sehr viel länger hingezogen hätten, wenn es sich bei dem Unglücksflug nicht um einen One-Way-Flug in die USA, sondern um einen solchen in ein anderes Land oder um einen Hin- und Rückflug von und nach Paris gehandelt hätte. Denn dann hätte für die Air France die Gefahr eher nicht bestanden, dass die deutschen Hinterbliebenen sie möglicherweise vor einem US-amerikanischen Gericht auf Schmerzensgeld verklagen.

erschienen in Heft 6/2001 NJW-aktuell S.12

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Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der NJW-Redaktion